dr Nadeloswald:

ein Handelsmann aus früherer Zeit


Bemerkung der Autorin:
Vieles ist frei erfunden, einiges jedoch beruht
auf wahren, mir bekannten Begebenheiten!

Die Kartoffeln sind angebrannt. Hochrot, mit aufgekrempelten Ärmeln, hantiert die Köchin am Herd. Die Hausherrin öffnet das Fenster und wedelt den Brandgeruch in die Winterluft. Der frostklare Morgen beschert gute Sicht. Frau Ida blinzelt. „Besuch“, sagt sie, während sie eilig das Fenster wieder verriegelt. Sie lässt eine Kanne Kaffee aufbrühen und Butterbrote schmieren. „Wer?“, fragt die Köchin, aber Frau Ida ist schon im Kontor ihres Gatten verschwunden. „Der Nadeloswald“, antwortet Hanna anstelle der Mutter und zieht ihre Schwester, die zehnjährige Elsbeth, vom Kuchenblech mit den Plätzchen weg. Auch sie hat den Mann mit dem mächtigen Tragekorb auf dem Rücken erspäht.

„Dor Nodeloswald? Dar frisst wie e Scheindraschr!“.

Grummelnd zieht die Köchin einen Schlüssel aus ihrem Busen und zupft ihr Brusttuch zurecht. Der Schlüssel ist für die Speisekammer. Hier lagern Köstlichkeiten: „Geräucherter Schinken, Schmalz, Eingewecktes, Dörrobst und Hülsenfrüchte“. Die Zeitungen berichten, dass in den Städten jetzt Hungersnot herrscht. Von Rationierungen aller Art wird geschrieben, die eingeführt worden sind: „Brennholz, Kohle, Kerzen, Seife, Tabak“. Man braucht Bezugsmarken für Mehl und Umtauschkarten für Fett und Petroleum. Selbst Tischwäsche und Taschentücher sind Mangelware geworden. Die Köchin hatte die Hände über dem Busen gefaltet, als sie davon las und auch die Eier-Hanne davon erzählte. Die Wäscheschränke ihrer Herrschaft sind voll: „Tafelwäsche, litzenbesetzte Bezüge und Laken, feines Linnen, gewirkte Servietten, Umschlagtücher, Messertücher und mehr“. Die Speisekammer, gottlob, ist ebenfalls gut bestückt.

Das scheint auch der Nadeloswald zu wissen. Schon hört man es poltern, klopft der knotige Stock des Nadeloswald aufs Dielenholz. Ein kleiner, hagerer Mann steht in der Küche. Er reibt sich die Hände, lüftet galant den zerdrückten Homburger und fährt sich durchs Haar.

„Bitt scheen, von allem etwas. Un alles wie nei“, schnarrt er und beugt sich über den Tragekorb, um ihn zu öffnen. Elsbeth wirft ihre Zöpfe nach hinten. Die Köchin schenkt Kaffee ein. Der Nadeloswald nimmt Platz, beäugt den Speckkuchen und die Butterbrote, bittet um Salz und fängt an, vergnüglich zu summen. Die Küchengewaltige bedenkt den Gast mit scheelen Blicken. Der schnuppert plötzlich. Ein flüchtiger Geruch von verbrannten Kartoffeln hängt noch immer im Raum. „Haste wuhl Arschr gekriecht?“, fragt der Nadeloswald, der sich die Sache zusammenreimen kann. „Näh“, brummt die Köchin und macht sich geräuschvoll daran, Töpfe und Pfannen zu schruppen. „Nähä“!

Die Hausherrin erscheint. Dem Nadeloswald gelingt em vollendeter Kratzfuß. Frau Ida grüßt freundlich und fragt nach Birkenhaarwasser und Brillantine. „Bitt scheen.“ Als kluger Mann hat er alles dabei. Selbst Wundsalben, blutstillende Schwämme, Bandagen und Tomiquets. Der Krieg hat ein Heer von Versehrten und Amputierten hinterlassen. Seit Wochen herrscht Frieden, aber die Wunden des Krieges verheilen nur langsam. Oswalds pharmazeutisches Sortiment ist noch gefragt. In der Hauptsache jedoch verkauft er Schnürsenkel, Bimsstein, Seife und Nadeln. Und richtig, die Köchin will „Nodeln“ kaufen. Auf Vorrat. „Nu nä, de annern Leit wulln a noch wos hom“, mahnt er. Der Nadel-Nachschub gestaltet sich momentan kompliziert.

Elsbeth nestelt an ihren Zöpfen. „Erzähl was“, bettelt sie. Der Nadeloswald wischt sich über die Lippen. Er kramt die Pfeife hervor und stopft sie mit Tabak. Sein Tabak ist keiner, der mit Buchenlaub oder Waldmeisterblättern gestreckt worden ist. Pfiffig und schlau, wie er ist, verfügt der Hausierer über gewisse Quellen. Doch hütet man sich, ihn danach zu fragen. Denn da wird er fuchsteufelswild und flucht wie ein Kesselflicker.

Die Leute munkeln, der Nadeloswald würde sein Handwerk, das ihn von Tür zu Tür ziehen lässt, nur bei Tage betreiben. In finsteren Nächten jedoch verwandele er sich in einen gewieften Pascher. Dann würde er Tabak und Schnaps über die böhmische Grenze schmuggeln. Reisig-Sammler wollen ihn in der Dämmerung gesehen haben. Wie er durchs Unterholz schlich, mit rußgeschwärztem Gesicht und einem Schießprügel in der Hand.

„Nu nä“, sagt der Nadeloswald, der sehr wohl weiß, was man über ihn sagt, doch zu alldem nur listig lächelt. Er zieht an der Pfeife und hüllt sich in blaue Rauchwölkchen ein. „Lieg ich vor kurzem so an der schönen blauen Donau, of emol, zwickt mich awos am Fuß.“ Er macht eine Pause. Elsbeth rückt erwartungsvoll näher. „War's fei a Krokodil!“

Die Köchin gackert so laut, dass ihr Busen bebt. „Un wos soll ich sagen? Wir haben ein wenig politisiert. Auch über den Kaiser. Den mochte das Krokodil ganz und gar nicht. Es schmiedete Pläne, den hochgeborenen Deserteur mit Haut und Haaren zu fressen.“ Der Nadeloswald angelt sich eine weitere Butterschnitte vom Teller und salzt kräftig nach. „Ein fahnenflüchtiger Lump, der sich von Ludendorff dreinreden lässt, gehört ...“

Jetzt schreitet die Hausherrin ein. Ob er beim nächsten Mal einen wirksamen Mottenschutz mitbringen könne, bittet sie. Der Nadeloswald lässt Krokodil und den Kaiser sein und notiert sich die Bitte. Geschäft ist Geschäft. Elsbeth hat sich derweil den Homburger aufgesetzt und Oswalds Spazierstock geschnappt. „Nu nä, a Krokodil“, ruft Sie aus und schwingt den Spazierstock.

„Pass auf“, mahnt die Schwester. Doch da ist es schon passiert. Der Hut ist ihr über die Nase gerutscht, der Stock auf dem Herd gelandet. Dort, wo im Topf die neu geschälten Kartoffeln brodeln. Elsbeth brüllt auf. Die Köchin schlägt ihre Hände zusammen. „Nu nä“, ruft Nadeloswald und springt in die Höhe. Schnell reißt er das Fenster auf. Vom Schnee auf dem Sims pappt er eine Handvoll auf den feuerroten, verbrühten Arm des Mädchens. Mit Brandsalbe könne er leider nicht dienen, sagt er bedauernd. Die letzte Schachtel sei an den Geier-Bäck weggegangen. Der habe sich nämlich beim Stollenbacken ganz mächtig „de Pfoten versengt“. Frau Ida hat eine andere Arznei. Sie holt eine Tafel Schweizer Schokolade aus dem Kontor.

Kurze Zeit später rumort es erneut im Flur. Doktor Sauer schüttelt den Schnee vom Mantel und setzt seine Brille ab, die Gläser sind angelaufen. Die Köchin hat ihn geholt. Der Doktor wohnt gleich nebenan. Er verarztet seine Patientin mit einem gewaltigen Mullverband und tröstenden Worten. „Bist de heiratst, is alles gut“, beruhigt er.

Beim Erscheinen des Doktors hat sich der Nadeloswald in eine Ecke verzogen und durchforstet den Tragekorb. Stillschweigend legt er dem Doktor ein paar Bandagen und blutstillende Schwämme bereit. Zuletzt schiebt er ihm noch ein verschnürtes Päckchen zu und streckt zwei Finger hoch. Verstohlen lässt es der Doktor in seine Tasche gleiten. Hinter den beiden zischt es. Die Köchin gießt die Kartoffeln ab. Der Doktor sieht er sich um. Der Cognac, der ihm sonst angeboten wird, lässt auf sich warten. So greift er auf eigene Reserven zurück und knöpft seine Weste auf. Dort, in den Innentaschen stecken zwei Fläschchen. Hurtig entkorkt er eine und nimmt einen kräftigen Schluck. Er schüttelt den Kopf. „Pfui Deibel“, brummt er und wischt sich über die Lippen. „letzt hab ich Seeche gesoffen ...“

Die Köchin bekreuzigt sich. Ganz offensichtlich hat der Doktor etwas verwechselt. Dabei verwahre er, wie er den Damen versichert, die Urinproben seiner Patienten stets separat und stets in der rechten Seite der Weste auf. Während der Doktor laut überlegt, ob er die Probe des Küsters mit Schnaps auffüllen sollte, eilt Frau Ida nach draußen. Nach diesem Schreck habe man sich einen Cognac verdient.

Mit Kennermiene hält der Doktor die Flasche hoch. „Das ist etwas Gutes“, sagt er, um höfliches Hochdeutsch bemüht und lehnt sich behaglich zurück. Er blickt zur Uhr. Mittagszeit. Die Butterbrote schmecken dem Doktor auch. Er greift zu. Nach dem vierten Glas fällt er in den hiesigen Dialekt zurück: „Un bald e scheens Christfest, un dass 'r de Fliegl von dr Peremett net agohgelt.“ Bedauernd erhebt er sich. Er muss noch ins Unterdorf. Der Nadeloswald, hat - was den Cognac angeht - dem Doktor nicht nachgestanden. Er taumelt etwas. Sein Kratzfuß vor der Köchin misslingt. „Esu giehts fei net“, zürnt diese und hebt den Homburger auf. „Adieu“, sagt der Nadeloswald und hat es plötzlich ebenfalls eilig.

Elsbeth steht am Küchenfenster und sieht den bei den nach. Mit ausholenden Schritten stapft der Doktor durch den kniehohen Schnee. Der Nadeloswald stapft hinterdrein. Er gestikuliert und stellt seinen Tragekorb ab. Jetzt bleibt auch der Doktor stehen und dreht sich um. Die Männer scheinen heftig zu streiten. Elsbeth drückt ihre Nase platt. Da ruft Frau Ida zu Tisch.

Jahre später erinnert sich Elsbeth immer noch: An jenem Wintertag, als sie sich ihren Arm verbrühte, schien der Abend schneller als sonst hereinzubrechen. Vereinzelte Lichter flackerten m der Dunkelheit auf.

Wiete Lenk
Dresden 2018



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